Das rote Adressbuch
Wenn das Jahr noch ganz frisch ist, krame ich mein kleines rotes Adressbuch hervor. Das mache ich immer so. Das Jahr über liegt es meist unbeachtet in der Schublade, weil die meisten Kontakte im Smartphone bereitgehalten werden. Aber wenn es wieder so weit ist, dass das Jahr wie weißer, unberührter Schnee vor mir liegt, koche ich mir eine Tasse Tee, zünde eine Kerze an und schlage es auf. Die Buchstaben auf den Reitern sind schon ganz abgegriffen. Buchstabe um Buchstabe, Seite um Seite blättere ich weiter, bis ich bei Z ankomme. Vorbei an Namen, Anschriften und Geburtstagen. Da gibt es durchgestrichene Straßen und Orte und die neuen Anschriften stehen klein darüber. Manche sind mehrmals umgezogen. Jeder Name steht für eine Beziehung. Hinter jedem Namen verbirgt sich ein ganzes Leben. Und so ist es mir, als würde ich sie an diesem frühen Januartag alle auf eine Tasse Tee zu mir einladen. Unter G steht eine Freundin, die ich nicht oft sehe, mit der aber jedes Telefonat wie prickelnder Sekt wirkt. Unter W finde ich einen Bekannten, der sich ein großes soziales Herz bewahrt hat und niemand seine Hilfe verwehrt. Unter A ist jemand neues hinzugekommen, ein unverhoffter Kontakt, der mich mit neuen Sichtweisen konfrontiert hat. Unter B dümpelt eine Studienfreundin vor sich hin. Wir haben uns seit Jahren nicht gesprochen, aber streichen will ich sie nicht. Unter K macht sich eine Freundin breit, die jeden Tag mit einem Dankgebet beginnt. Beim Buchstaben S bleibe ich lange hängen. Erstaunlich wie viele Namen mit S beginnen. Hinter einem steht ein Kreuz und hinter dem Kreuz ein Datum. Ein Abschied, ein Verlust, ein bleibender Schmerz. Immer noch tief verbunden, höre ich ihn sagen: „Unsere Zeit liegt in seinen Händen“ und ich erinnere mich an unsere Gespräche über richtige und falsche Zeiten und den einen rechten Moment. Schließlich klappe ich das kleine rote Buch wieder zu. Ich bin gespannt, welche Namen in den nächsten Wochen und Monate hinzukommen werden. Vielleicht werden Kinder geboren. Vielleicht trage ich den Namen eines neuen Kollegen ein oder füge den eines Facharztes hinzu. Ihre Zeit wird meine Zeit berühren und es ist gut zu wissen, dass unser aller Zeit in Gottes Händen steht. Ruhig ziehe ich die Schublade auf, lege das Adressbuch hinein und schiebe sie zu. Jetzt gilt es zu leben.
Mit den besten Wünschen für Ihr und dein Jahr 2025!
Susanne Schumacher